„Yolocaust“: Wenn ein Denkmal auf die Generation Selfie trifft…

Ich kenne das Holocaust-Denkmal nähe des Brandenburger Tors in Berlin sehr gut. Nicht nur, weil ich als Berlinerin schon mehrmals vor Ort war, sondern auch, weil ich mich mit dieser historischen Gedenkstätte im Rahmen meiner Abiturprüfungen beschäftigt habe.
Obwohl dieses Denkmal bereits seit einigen Jahren in der deutschen Hauptstadt steht und öffentlich begehbar ist (die Eröffnung war im Mai 2005), drehte sich die Medienberichterstattung in den letzten Tagen erneut um dieses Mahnmal – jedoch mit einem etwas anderem Fokus…

Denkmal für die ermordeten Juden Europas

Dieses Denkmal, was mitten im Zentrum Berlins steht, ist die zentrale Holocaustgedenkstätte Deutschlands. Es symbolisiert einen Ort der Erinnerung und des Gedenkens an die circa sechs Millionen jüdischen Opfer des Holocaust.
Der Architekt Peter Eisenman entwickelte mit seinem Werk ein etwas anderes Mahnmal: Ein Denkmal, welches aus einem Stelenfeld mit einer unterirdisch gelegenen Ausstellung „Ort der Information“ besteht. Diese Ausstellung dokumentiert die Verfolgung und Vernichtung der Juden Europas und die historischen Stätten der Verbrechen.

Das Stelenfeld besteht aus insgesamt 2.711 grauen Betonklötzen – sogenannte Stelen -, die auf einer Fläche von 19.000 m² in einem Raster angeordnet sind. Die Stelen sind jeweils 95 cm breit, circa zweieinhalb Meter lang und haben jeweils eine unterschiedliche Höhe. Zwischen den riesig, großen und Dominosteinen ähnelnden Stelen öffnen sich schmale, kaum schulterbreite Pfade, die zu begehen sind.

Yolocaust
Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Bildquelle: © pixabay.com / ein Bild von Meli1670

Von allen Seiten können Besucher in das Denkmal „eintauchen“ und seine sonderbare Struktur auf sich wirken lassen. Von jedem Punkt im Denkmal führen vier nahezu schnurgerade Wege nach draußen. Der Boden des Mahnmals ist unregelmäßig abgesenkt und wellenförmig, wohingegen die Stelen vom Rand bis zum Innern des Denkmals an Höhe gewinnen. Alle Stelen haben zusätzlich unterschiedliche Neigungen.

Yolocaust
Das Stelenfeld des Denkmals für die ermordeten Juden Europas. 2.711 Stelen unterschiedlicher Höhe stehen auf einem wellenförmigen Boden mit verschiedenen Neigungen. Bildquelle: © pixabay.com / ein Bild von reginaspics

Generell erhält die Anlage durch diese Elemente eine bewegte Anmutung. Es gibt Vermutungen, dass gerade durch diese Unstrukturiertheit der Besucher eingeschüchtert werden soll. Die großen grauen Betonklötzer sollen beim Besucher ein Gefühl der Beklemmung und der Eingeengtheit auslösen.

Doch wie wirkt dieses Denkmal nun wirklich bei den Besuchern?!

Genau dieser Fragestellung habe ich mich 2009 im Rahmen meiner Abiturprüfung angenommen. In diesem Projekt sah ich die Möglichkeit mein Interesse für Kunst und Geschichte ideal kombinieren zu können.
Dieses Denkmal hat mich von Anfang an fasziniert. Diese schrecklichen Geschehnisse, die die ganze Welt niemals vergessen darf, mittels einer Gedenkstätte zu vermitteln und auszudrücken, ist an sich eine große Herausforderung, wie ich finde. Doch bekommen die Besucher wirklich eine bedrückende Stimmung, wenn sie durch dieses Denkmal gehen?

Wenn man allgemein das Verhalten der Besucher kurz beobachtet – hier reichen 30 Sekunden schon aus – bekommt man schnell mit, dass dies kein Ort des Gedenkens ist: Etliche Personen hüpfen von Stele zu Stele, verstecken und erschrecken sich gegenseitig oder sitzen auf den Stelen und quatschen (hier das Wort „chillen“ zu verwenden, wäre ein Treffer).

Es erinnert eher an einen Abenteuer-Spielplatz oder an einem Park, nicht jedoch an ein Denkmal für fast sechs Millionen Opfer, die auf menschenverachtender Weise ihr Leben verlieren mussten.

Meine Befragung im Jahr 2009 bestärkten meine Beobachtung und Wahrnehmung. Wenige fühlten sich durch die großen Stelen eingeschüchtert oder hatten ein mulmiges Gefühl während der Begehung des Denkmals. Es gab jedoch mehrere Nennungen, dass dieses Denkmal durch seinen Bau regelrecht zum „Spielen“ einlade.
Insgesamt herrscht vor Ort eine gewisse Atmosphäre, meiner Meinung nach, jedoch im negativen Sinn. Denn den Opfern gedenken oder sich der abscheulichen Vergangenheit mit einem Schaudern zu erinnern, tun hier die wenigsten.
Und genau das thematisierte Shahak Shapira in seinem jüngsten Projekt.

Yolocaust

Yolocaust ist ein Projekt des israelischen Satirikers und Autors Shahak Shapira und setzt sich vom Namen her aus dem in den sozialen Netzwerken weit verbreiteten Hashtag „Yolo“ (You only live once („Du lebst nur einmal“)) und dem Wort „Holocaust“ zusammen.

Shapira hinterfragt mit seinem Projekt die gegenwärtige Erinnerungskultur: Er erstellte eine Website mit dem Namen „yolocaust.de“ und sammelte Selfies, die am Denkmal für die ermordeten Juden Europas aufgenommen wurden, und in den sozialen Netzwerken, wie Facebook und Tinder – teilweise als Kontaktbilder – verwendet wurden. Erschreckenderweise sind dies Fotos mit freudig-strahlenden Gesichtern, Personen in verschiedenen Posen, auch athletische Inszenierungen sind zu sehen. Shahak Shapira wählte ein paar dieser Fotos aus und legte Bildmaterial aus Vernichtungslagern darunter. So posen junge Mädchen mit einem Lächeln im Gesicht nicht mehr auf eine der vielen Stelen, sondern auf einem riesigen Berg von Leichen aus dem KZ, ein Jongleur spielt nicht mehr in einem Gang mitten im Stelenfeld, sondern in einem Graben voller Leichen, der mit Sand zugeschüttet wird, und so weiter.

Auf seiner Seite sind vorerst die real aufgenommenen Fotos mit ihren Bildtiteln und Likes zu sehen. Bewegt man den Mauszeiger über die Bilder, werden die dargestellten Personen in die nationalsozialistischen Vernichtungslager montiert.

Durch das Kombinieren von Selfies, die an der historischen Gedenkstätte aufgenommen wurden, mit Bildmaterial aus Vernichtungslagern, stellt er eine entlarvende Website über das Verhalten von Besuchern des Holocaust-Mahnmals zusammen. Ca. 10.000 Menschen besuchen täglich das Denkmal für die ermordeten Juden Europas, wobei viele von ihnen Fangen spielen, skaten, radeln und lachen – oder mehrere Selfies machen, welche dann stolz im Internet präsentiert werden.

Shapira setzte mit seiner Website einen Viral-Hit. Horizont.net berichtete, dass Shapiras Seite „Yolocaust.de“ in den ersten zwölf Stunden mehr als 500 000 mal aufgerufen wurde.

Mein Fazit zum „Yolocaust“

Ich persönlich finde sein Projekt fantastisch. Schließlich steht dieses Denkmal als ein Ort des Gedenkens, des Erinnerns und sollte – meiner Meinung nach – nicht als ein Set für Poser und Models fungieren. Diese Fröhlichkeit und Unbefangenheit, die teilweise dort vor Ort herrscht, diese Konzentration, das perfekte Selfie zu schießen, finde ich sehr widersprüchlich. Das Verhalten, welches man von Touristen, aber auch von Berlinerinnen und Berlinern, beobachten kann, finde ich irgendwo pietätlos. Klar, in dem Denkmal findet sich nirgends eine Gedenktafel mit den Namen der Opfer wieder, sodass Touristen eventuell keinen Anhaltspunkt finden könnten, wessen zu gedenken sei. Jedoch unterstelle ich, dass man dies trotzdem wissen kann und sogar müsste, denn dieses Denkmal ist eine der größten Sehenswürdigkeit in Berlin und findet sich in nahezu jedem Stadtführer wieder.

Es ist bemerkenswert, wie viele Selfies von der Website yolocaust.de verschwunden sind, seitdem Shapira diese online gestellt hat (18.01.2017). Anscheinend hat die eine oder andere Person das im unteren Drittel stehende Angebot von Shapira angenommen und um Entfernung des Selfies von der Homepage gebeten, weil man sich nun schämt dieses Selfie hochgeladen zu haben.

Ich würde sagen, das Projekt ist geglückt 👍🏼.

Textquelle: yolocaust.de, Shapira, S.: 2017, abgerufen am 19.01.2017,
stiftung-denkmal.de, Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas: 2017, abgerufen am 21.01.2017

Bildquelle Beitragsbild: © pixabay.com / ein Bild von 3093594

Norine Palme

"Wenn der Plan nicht funktioniert, dann ändere den Plan - aber niemals das Ziel!" Norine schloss das Studium an der SRH im Jahr 2018 ab. Beruflich ist sie in einem Verlagshaus tätig und widmet sich dort dem Management von verschiedenen Content-Marketing-Kampagnen. Im MuK-Blog schreibt Norine vornehmlich über Themen wie (digitales) Marketing, PR und Digitalisierung.