Sommer, Sonne, Festivals. Für viele gehört der Besuch einer der zahlreichen Open-Air-Veranstaltungen einfach zur Sommerzeit hinzu. Laut einer Umfrage des Reiseunternehmens Travelcircus ist das beliebteste deutschsprachige Festival nach wie vor das Rockmusik-Festival Rock am Ring (kurz:RaR). Mit über 90.000 verkauften Wochenendtickets im Jahr 2022 ist der Nürburgring in der Eifel Anfang Juni das Besuchsziel schlechthin für zahlreiche Fans, Musikliebhaber:innen und Bands. Mit den Hauptacts Greenday, Muse, Mâneskin und Volbeat blicken die Veranstalter auch in diesem Jahr auf ein beeindruckendes Line-Up zurück.
Doch eines fällt beim Blick auf eben dieses auf und überschattet den Erfolg des Festivals: 95 Prozent der Acts sind ausschließlich mit männlich gelesenen Personen besetzt. Music S Women*, ein Netzwerk für Frauen in der Musikindustrie, hält bei Instagram fest: nur 5,62 Prozent der Künstler:innen sind FLINTA+ – also Frauen, lesbische, intersexuelle, trans- oder asexuelle Menschen. Oder um es mit den Worten der Comedienne Carolin Kebekus zu sagen: »Bei Rock am Ring hat das Bier mehr Prozente als der Frauen-Anteil.«
Doch nicht nur Rock am Ring verzeichnet solche Zahlen und bietet seit Jahren vor allem männlich gelesenen Künstlern eine Bühne. Das Netzwerk female:pressure untersuchte in den letzten zehn Jahren 833 Festivals weltweit. Die Bilanz zum Frauenanteil liegt international im Durchschnitt bei 27 Prozent, in Deutschland meist weit unter 20 Prozent. Noch geringer ist die Frauenquote nur bei der Verleihung der Grammys, dem anerkanntesten Musikpreis auf internationaler Bühne. Zwischen 2013 und 2019 waren gerade einmal zehn Prozent der nominierten Acts FLINTA+.
Warum ist das so? Gibt es einfach nicht genug FLINTA+-Künstler:innen? Oder ist das Problem vielmehr strukturell in der Musikindustrie verankert? Was können Festival-Veranstalter und große Plattenlabels gegen diese Ungerechtigkeit tun und wie zeigen FLINTA+-Menschen jetzt ihren Zusammenhalt?
It’s a Man’s, a Man’s, a Man’s world!
Als Motown Records um 1960 als erste »Hitfabrik« weltweit ausgerufen wurde und Meilensteine wie »Sir Duke« von Stevie Wonder oder »Ain’t No Mountain High Enough« von Marvin Gaye die heiligen Hallen des Musiklabels verließen, dachte dabei noch keiner an eine Frauenquote. Vom Tontechniker zur Studioleitung, vom Sounddesigner zum Produzenten – die Musikindustrie war eine Männerdomäne. Erfolgreiche Frauenbands wie »The Supremes«, »The Marvelettes« oder »The Shangri-Las« waren damals nur Interpretinnen. Sie sollten vor allem eines: gut aussehen und viel verkaufen. Äußerlich zeigten Plattenlabels also oftmals einen Frauenüberschuss, intern war die Kräfteverteilung jedoch eine andere.
Und dieses Bild zieht sich bis in die Moderne. Der Chef von Sony Music: Rob Stringer, ein Mann. In der Chefetage von Universal Music: Lucian Grange, ein Mann. Selbst der aktuelle Vorstand des Bundesverbandes Musikindustrie: fünf Männer. Der Vorstand der Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte (GEMA): vierzehn Männer, eine Frau. Ein befreundeter Radiomoderator verriet mir im Vertrauen: »Ja, du hast da schon ganz richtig recherchiert. Es gibt ein ungeschriebenes Gesetz, das sagt, dass nicht mehr als zwei, drei Songs mit Frauen hintereinander gespielt werden dürfen. Warum das so ist – keine Ahnung, aber es wird immer schon etwas drauf geachtet. Voll albern und vor allem megascheiße für die Künstlerinnen, wenn du mich fragst«
Johanna Bauhus ist eine der zwei Gründerinnen des Labels »Ladies & Ladys«, das sich für die Förderung von Frauen in der Musikbranche einsetzt. Auf ihrer Seite bezeichnen sie sich selbst als erstes, offiziell sexistisches Musiklabel. Sie erklärt mir: »Vermutlich sind FLINTA+ Personen den cis-männlichen Menschen zahlenmäßig überlegen, sie sind aber im Musikbiz deutlich unterrepräsentiert. Aus einem einzigen Grund: Sie werden nicht präsentiert. Das ist kein Zufall mehr, das ist Struktur und der falsche Status Quo. ›Musik wird nur von Musikern gemacht‹ bleibt in der Wahrnehmung der Akteur:innen wie z.B. Booker:innen, gültig.«
Hit me Baby one more time!
Ich will es genauer wissen und treffe Lana Van da Vla, Journalistin und Sängerin der New-Wave-Band Kochkraft durch KMA zum Interview. Schnell kommen wir auch auf sexistische Erlebnisse zu sprechen, die sie als Frau während eines Konzertes erlebt hat: »Eines, das mir immer zuerst einfällt, ist folgendes: Ich bin zwar Sängerin, aber trotzdem helfe ich vor dem Gig und schleppe Sachen rein, kümmere mich um den Aufbau und weiß, wie man Kabel steckt. Ich bin dann mit einem unserer Vinyl-Koffer zum Merch gelaufen und wollte dort alles aufbauen und einer der Techniker fragte: ›Ist das dein Schminkkoffer?‹«
Solch übergriffiges Verhalten ist keine Seltenheit, das zeigen unzählige Beispiele. In der Castingshow »Deutschland sucht den Superstar« fragt Produzent Dieter Bohlen zur Begrüßung ganz unverblümt, ob der Po einer Kandidatin echt sei, ob sie einen Freund hätte und warum sie sich hübsch mache, obwohl sie keinen Freund suche. »Solche Lippen wollen doch einen Mann küssen, oder nicht?«, grinst Bohlen.
Schlagzeile machte auch #freebritney – die Popsängerin und Erfolgsträgerin der Alben »… Baby, One More Time!« und »Oops« kämpft seit Jahren gegen die Vormundschaft ihres Vaters. Nachdem die damals 17-jährige Britney Spears über Nacht zur Berühmtheit wurde und alle Welt das blonde Schulmädchen in ihrem Videoclip zu »… Baby, One More Time!« feierte, konnte die junge Sängerin dem Erfolg nicht mehr standhalten. Vollkommen traumatisiert und psychisch labil, nimmt sich ihr Vater ihrer an – und das bis heute. Inzwischen ist sie zwanzig Jahre älter und kämpft immer noch für ihr selbstbestimmtes Leben. Und für den Lohn ihrer Arbeit – immerhin hält ihr Vater hohe Prozente an der Marke Britney Spears.
Who run the world? Girls!
Die Musikindustrie steckt in einem Teufelskreis. Veranstalter:innen von Festivals und Konzerten buchen das, was sie kennen. Die Bands, die sich seit Jahren etabliert haben und die erfolgreich verkaufen. Sie geben ihnen auf Konzerten eine Reichweite, die wiederum zu weiteren Bookings und Anfragen führt. Männer buchen Männer. Männer machen Männer groß. In gewisser Weise ist das Bild der sechziger Jahre immer noch präsent: Frauen sollen schön aussehen und bekommen vermeintliche Komplimente genau dafür. »Ich hab nicht nur einmal nach einem Konzert Sachen gehört wie (O-Ton): ›Mensch, wenn ich dich so auf der Bühne sehe, dann weiß ich genau, wie du im Bett aussiehst.”‹, erzählt mir Van da Vla.
Man müsste etwas unternehmen, sagte sie sich und initiierte gemeinsam mit ihren Bandkolleg:innen von Kochkraft durch KMA die Aktion »Cock am Ring«.
»Die Hose auf, ja das ist schön!«
Mit einem Sampler, bestehend aus vierundzwanzig Titeln bekannter Rock am Ring-Künstler, gecovert von verschiedenen FLINTA+-Artists und -Bands, machten sie auf die Ungerechtigkeit in der Branche aufmerksam.
Unterstützt wurden sie schnell vom Label Ladies & Ladys, die ihre Kontakte spielen ließen und ihr Netzwerk einbrachten. Die Schirmherrschaft übernahm Kulturstaatsministerin Claudia Roth. Der Erlös von »Cock am Ring« soll komplett an das Plattenlabel DreamHaus, die Veranstaltender:innen von Rock am Ring, gehen – damit sie sich im nächsten Jahr auch ein paar FLINTA+-Artists leisten können. Außerdem findet am 10. und 11. September 2022 das Cock am Ring-Festival in der Sputnikhalle in Münster statt. »Wir sind [aufgrund des Namens ] sehr oft im Spam-Ordner gelandet und viele Redaktionen haben unsere Mitteilung gar nicht bekommen. Die dpa (Deutsche Presse-Agentur, Anm. d. Red.) hat es dann zum Glück trotzdem rausgeschickt«, erinnert sich Lana Van Da Vla.
Sie ist es auch, die gemeinsam mit Kochkraft durch KMA mit »Mein schöner Hodensack« (Original: Die Kassierer), das Album eröffnet. Es folgen Künstler:innen wie Kapa Tult mit »Milk & Honey« (original: Die Beatsteaks), Lisa Spielmann mit »Ein Kompliment« (Original: Sportfreunde Stiller) oder der Marteria-Hit »Lila Wolken«, neu interpretiert von der Band Tonbandgerät.
I’m not your Barbie girl!
»Dass Frauen bei deutschen Festivals so unterrepräsentiert sind, verhindert […] auch, dass sie überhaupt groß werden: Festivalshows sind oft nicht das Resultat einer Karriere, sondern Teil ihres Beginns«, meint die Musikerin Sophie Hunger in einem Gastbeitrag im SPIEGEL.
Rock am Ring ist dabei eines der entscheidendsten seiner Art, es wurde mehrfach live in der ARD übertragen, vom WDR begleitet, in diesem Jahr sogar von RTL gestreamt. Auf Nachfrage reagiert der Veranstalter DreamHaus bestürzt. Er bedaure die wenigen weiblichen Acts und betont, dass sich dies im kommenden Jahr ändern soll. Ob ein diverseres Booking mit den Spenden von Cock am Ring möglicht ist – Rock am Ring 2023 wird es zeigen. Eines haben die Initiierenden des Samplers allemal erreicht: Sie haben ein Bewusstsein geschaffen. Lana Van da Vla reflektiert: »Ich hatte nicht das Gefühl, als hätte ich hingehen können, um etwas gegen Sexismus in der Branche zu unternehmen. Dass ich das mit der Aktion mache, ist auch eine persönliche Entwicklung von mir.«
This is my Fight Song!
Und wie es der Zufall will, ist Cock am Ring mit ihrer Aktion nicht allein. Erst einige Monate zuvor veröffentlicht Comedienne, Autorin und Musikerin Carolin Kebekus in ihrem Comedyprogramm DCKS-Show in der ARD ein Video zu den Sexismus-Vorwürfen bei Rock am Ring. »Natürlich gibt es Mittel und Wege, dagegen anzugehen. Und ein Weg ist sogar ziemlich einfach: gebt Frauen Plattenverträge«, fasst sie schließlich zusammen. Und noch etwas kündigt sie an: »Ich mache mein eigenes Festival – mit Frauen.«
Es heißt zunächst Ring am Rock und ging am 6. Juni 2022 als DCKS-Festival über die Bühne. Im Vorfeld gab es viel Kritik, doch die Veranstalterin zog durch: Carolin Kebekus initiierte und lud nach Köln ein: FLINTA+-Artists, Speaker:innen und bekannte Gesichter aus Film und Fernsehen. Frontbands waren unter anderem LEA und die No Angels, das Line-up war extrem vielseitig, bunt und divers. Und es wurde angenommen – etwa 5.000 Besucher:innen tanzten in Köln zur Musik der Künstler:innen.
Praktisches Marketing auch für Kochkraft durch KMA, Ladies & Ladys und ihren Sampler Cock am Ring. Die Kommunikation zu beiden Projekte überschneidet sich, wird in Pressemitteilungen zusammengemischt. »Tag24 hat zum Beispiel geschrieben, dass Carolin Kebekus Cock am Ring organisiert hat, was aber nicht stimmt. Das war im Nachhinein aber ein großer und guter Zufall, weil wir auch dadurch mit denen ins Gespräch gekommen sind.« Über Umwege hatten die Initiierenden zuvor schon Kontakt miteinander, waren auch auf Kebekus’ Festival. »Sie wusste sofort, wer wir sind – und da hat auch die zahlreiche Vermischung und Verwechslung geholfen.« Das reicht, um das Projekt bekannt zu machen. Immerhin, so erzählt es mir Van da Vla, ließ sich kein Sponsor finden, der das Projekt finanziell unterstützt. So wurde Cock am Ring schlussendlich ein »Online-Ding« – präsentiert vor allem über die eigene Webseite, den dazugehörigen Instagram-Account und die Webpräsenzen der Artists.
Wann ist ein Mann ein Mann?
Ist von Sexismus, von der Unterdrückung von Frauen, Männerdomänen und patriarchalen Strukturen die Rede, geht es demnach immer auch um eine erlernte Verhaltensform. Es geht um Normen und Vorstellungen, die sozial im Wertesystem einer Gesellschaft verankert sind. Um diese zu durchbrechen, bedarf es neuer Ideale und mutiger Menschen, die diese umsetzen. Ich habe daher zum Schluss gefragt: Was können männlich gelesene Menschen tun, um FLINTA+-Künstler:innen zu unterstützen?
Lana Van da Vla: »Ein tolles Beispiel für das, was Männer machen können, ist das, was ›Drangsal‹ gemacht hat. Er hat bei Rock am Ring gespielt und die Künstlerin Mia Morgan als Support mitgenommen. Sie konnte dann während seines Gigs einen ihrer Songs performen. Ich sage nicht, dass jetzt alle ihre Slots verschenken sollen, aber man kann es ansprechen und so zum Beispiel die Aufmerksamkeit darauf lenken.«
Ladies & Ladys Label: »Tickets kaufen. Nett sein. Musik hören und Musik teilen. Nicht mehr so oft wegschauen und ihren Freunden sagen, wenn sie doof sind.«
Weitere Informationen und Quellen
Interviews mit Lana Van da Vla (Kochkraft durch KMA) und Johanna B. (Ladies & Ladys)
Instagram @cockamringofficial
ZEIT online: Mitleid mit Musikmännern
Bilder
Bildmaterial CaR-Pressematerial mit freundlicher Genehmigung
sowie lizensierte Bilder nach (c) Adobe Stock
Überschriften:
unter Verwendung folgender Musiktitel (nach Erwähnung):
James Brown – It’s A Man’s Man’s Man’s World
Britney Spears – Baby One More Time
Beyoncé – Run the World (Girls)
Ava Max – Not Your Barbie Girl
Die Kassierer – Mein Schöner Hodensack
Rachel Platten – Fight Song
Herbert Grönemeyer – Männer